„Es ist nicht gesagt, dass es besser wird, wenn es weniger wird. Wenn es aber besser werden soll, muss es weniger werden.“ (frei nach Georg Christoph Lichtenberg)


Mit Paul Schwaderer realisiert der Verein 701 e.V. zum zweiten Mal sein neues Format der ‚PopUp Gallery‘. Nach einem ersten Aufschlag 2019 in dem von Renzo Piano entworfenen Bürogebäude FLOAT im Medienhafen, zeigt der Verein jetzt am Kö-Bogen einen frisch gebackenen Absolventen der Kunstakademie, der im Sommer seinen Abschluss in der Klasse von Martin Gostner gemacht hat. Wie schon 2019 erhalten die Düsseldorfer auch dieses Mal einen „Kunstgenuss to go“, denn coronabedingt ist die Ausstellung als reine ’Schaufensterausstellung’ konzipiert und nur von außen einsehbar.

Die Inszenierung von Kunst in einem ehemaligen Ladenlokal am Kö-Bogen ist ungewöhnlich und bricht mit der musealen Präsentation von Kunstwerken, denn hier, wie schon 2019 im Medienhafen, treffen Urbanität und Kunst ganz unvermittelt aufeinander.

Das Ladenlokal in der Passage zwischen Breuninger und Porsche Design ist eine der belebtesten Flaniermeilen im Herzen von Düsseldorf. Inmitten dieser glitzernden Mode- und Geschäftswelt mit ihren verlockenden Auslagen eine Kunstausstellung zu implementieren, ist eine Herausforderung, denn die optischen Reize des vorweihnachtlichen Waren- und Konsumangebotes sind überwältigend“, so Vorstandsmitglied von 701 e.V. und Kuratorin Dr. Astrid Legge.

Diesem Überangebot an Waren setzt Paul Schwaderer mit ‚Weniger muss‘ ein überzeugendes Statement entgegen, welches nachdenklich und neugierig zugleich macht. Der 1984 in Tettnang am Bodensee geborene und in Düsseldorf lebende Künstler war zuletzt 2018 mit seinem „Rembrandt Experiment“ im Museum Kunstpalast und 2019 in der Gruppenausstellung „Kinetic Machines“ im Krefelder Kunstverein und MMIII Kunstverein Mönchengladbach zu sehen. Für die Ausstellung am Kö-Bogen schuf er einen multimedialen Reigen bestehend aus 2 größeren Videoarbeiten und 2 skulpturalen Objekten im Raum.

Die Frage, wie viel oder wenig Information notwendig ist, um eine Person immer noch als solche zu erkennen, veranschaulicht die 2-teilige Videoarbeit ‚Kapitulation I + II‘ par excellence. Frei nach dem Motto ‚weniger ist mehr‘ reduzieren sich durch einen mathematischen Algorithmus die Ansichten zweier Porträtbüsten langsam bis auf ihre geometrischen Grundformen. Beim Betrachten der beiden rotierenden Figuren – weiblich / männlich und gleichzeitig Selbstportrait des Künstlers –  stellt sich zwangsläufig die Frage, ob das, was übrigbleibt, als verdichtete Essenz oder sinnfreier Datenrest zu deuten ist. Und liegt möglicherweise in der Reduktion auch eine Befreiungshandlung? Vielleicht bedeutet weniger Bild auch weniger Muss!

‚klar und deutlich‘ macht dies auch die gleichnamige auf dem Boden liegende Video-Arbeit. Leuchtende LED-Lichter formen eine stilisierte Hand, die in langsamer Abfolge unterschiedliche Gesten ausführt. Das Video wird einfarbig auf einer roten LED-Matrix abgespielt, die auf das absolute Minimum an Informationsdichte reduziert ist.

Ähnlich wie die 2018 im Kunstpalast gezeigte Arbeit ‚R100G‘, die Bezug nahm auf Rembrandts berühmtes ‚Hundertguldenblatt‘, sind auch hier einzelne Handgesten und –zeichen zu sehen, die jetzt allerdings frei gewählt sind und durch das Fehlen eines erklärenden Kontextes ihre Les- und Deutbarkeit verlieren. Der Künstler beschreibt sie als ‚weiße Flecken‘ in der zwischenmenschlichen Kommunikation, als unbestimmbaren Zustand, für den es noch keinen Begriff, keine Kategorie und keine Bilder gibt.

Wie muss ein Mensch beschaffen sein, der sich an die Erforschung der ‚ganz ganz großen Fragen‘ wagt?“ Diese Frage stellt Schwaderer in ‚Muss ich ein Loch unter der Erde graben?‘ Auf drei Bildschirmen an der Stirnwand ist eine Video-Laufschrift zu sehen, die insgesamt 61 Fragen und Antworten formuliert. Die Fragen rekurrieren auf die spekulative Idee des Künstlers, eine ‚Weltmaschine‘ zu bauen nach dem Vorbild des LHC (Teilchenbeschleuniger) im Forschungszentrum CERN in Genf.

Die zugrundeliegende Überlegung ist, ob möglicherweise Religion, Philosophie und Kunst als Welterklärungsmodelle ausgedient haben und stattdessen Wissenschaft und physikalische Grundlagenforschung die großen Fragen nach dem Ursprung der Dinge heute zeitgemäßer beantworten können. Die daraus resultierende Überlegung, ob Wissenschaftler und Ingenieure heute nicht die eigentlichen und unentdeckten Künstler unserer Zeit sind, beantwortet Schwaderer auf seine ganz eigene, unterschwellig humorvolle Weise: er plant, der Wissenschaft die Stirn zu bieten und einen eigenen Teilchenbeschleuniger zu bauen. Um vorab zu klären, welche Fähigkeiten und Eigenschaften man als Künstler dafür mitbringen muss, entwickelte er einen „Muss ich…?“ – Fragenkatalog, den von einem Physiker des schweizerischen Kernforschungszentrums CERN mit einem binären ja/nein beantworten lässt.

Die bewusste Reduzierung eines im Grunde unglaublich komplexen und vielschichtigen Sachverhaltes auf ein simples Frage/Antwort-Spiel, erscheint geradezu brutal, befragt aber auf eindringliche Weise die künstlerischen Bedingungen, welche Arbeiten dieser Größenordnung möglich machen: Ihre Fokussierung auf den reinen Erkenntnisgewinn abseits einer direkten Verwertbarkeit, die Aufgabe, unsichtbare Strukturen und Zusammenhänge erkennbar zu machen und nicht zuletzt die Professionalisierung des Ausprobierens.

Prominent im Schaufenster positioniert und doch unscheinbar, ist die Arbeit ‚eine ausgedehnte Pause‘ zu sehen, eine mit einem weißen Pulver gefüllte rotierende Glasröhre auf einem schwarzen Quader. Durch die langsame Rotation türmt sich das Gesteinspulver derart auf, bis das Material der Schwerkraft nicht mehr trotzen kann. Es bricht herunter und erzeugt dabei Spalten und Abbrüche, die an Naturprozesse wie Gletscherbewegungen oder geologische Gesteinsumformungen erinnern. Und obwohl sich die Rolle überaus langsam dreht, zeigt sie doch wie im Schnelldurchlauf einen Prozess, der sich in der Realität über Jahrhunderte erstreckt. Fast-Forward und Slow-Motion liegen hier ganz nah beisammen.